„Wir tönen gemeinsam dreimal das OM“ sagte der in die Jahre gekommene Yogalehrer. „Ich tön hier mal gar nichts“ , dachte ich, biss meine Lippen zusammen und schämte mich fremd für meine Sitznachbarn die ein klangvolles OM in den Raum schallten.
Meine erste Yogastunde vor mehr als 16 Jahren. Mein Lehrer Hartmut war knapp über 70 Jahre alt, hager und ruhig. Sehr ruhig. Hartmut sprach leise, überlegt und bescheiden. „Bhujangasana“ säuselte Hartmut später und alle rollten sich auf den Bauch und hoben ihren Kopf und Oberkörper an. Mein Kopf, drehte sich wild nach links und rechts, um zu schauen, was die anderen machten.
„Shalabasana“ sagte Hartmut einige Zeit später. Alle hoben ihre Beine an. Bei mir hob sich gar nichts an. Meine Beine wollten einfach mal gar nicht nach oben. Zumindest nicht aus der Bauchlage. So sehr ich es auch versuchte, da tat sich nichts. Vor mir eine Dame um die 50, deren Beine fast einen halben Meter in die Luft gestreckt waren. „Wie geht das ?“, fragte ich mich und war ziemlich frustriert.
Hartmut ging durch die Reihen und säuselte etwas von Sanskrit Sutren und Philosophie. Ich verstand nur Bahnhof und mein Körper ebenso.
Trotz dieser frustrierenden ersten Stunde zog mich seitdem irgendetwas jede Woche in die Stunden von Hartmut. Denn auch wenn ich nichts verstand, mein Unbewusstes verstand scheinbar eine Menge und war froh endlich ein Sprachrohr bekommen zu haben.
Nach ca. sechs Monaten wöchentliches Yoga – meine Beine hoben sich bei der Heuschrecke – zumindest schon mal einen Zentimeter nach oben, gönnte ich mir eine Doppelstunde Hartmut. Mir war nach Entspannung, Ruhe, Besinnlichkeit. Ich hatte Urlaub. Doch kaum war ich auf dem Rückweg mit dem Fahrrad nach Hause, überkam mich eine tiefe Traurigkeit. Und ich verstand wieder Mal nichts.
„Was denn jetzt?“ dachte ich. „Wo ist die Entspannung? Warum bin ich so unglaublich traurig?“ Ich weinte den ganzen Abend und die ganze Nacht.
Ja auch das ist Yoga. Yoga wirkt. Und zwar nicht nur auf den Körper. Yoga gibt dem Unbewussten Raum sich zu zeigen. Da sind Dinge die entdeckt werden wollen, Stimmen die gehört werden wollen. Und Yoga kennt kein Pardon. Wenn es Zeit ist, ist es Zeit. Ob du nun Lust auf Entspannung hast, interessiert dein Unbewusstes recht wenig. Mir wurde damals ziemlich bald klar, warum ich weinte, und was zu tun war.
Es sind diese Mini Erkenntnisse. Als wenn dir plötzlich jemand die Brille putzt. Plötzlich liegt alles auf der Hand und du kannst gar nicht nachvollziehen, warum du das vorher nicht gesehen hast.
Zwölf Jahre später bekam ich einen Namen dafür. „Buddhi putzen“ nannten unsere Dozenten es in der Yogalehrausbildung. Das Wort Buddhi stammt aus der Samkhya Philosophie. Das östliche Modell des Geistes (antakarana) ist unser inneres Instrument. Das Modell ist in vier Teile aufgeteilt, die uns helfen
unseren Geist effektiver zu nutzen und ihn als „Werkzeug“ zu verstehen. Buddhi ist ein Teil davon. Buddhi, das Unterscheidungsvermögen, der höhere Geist oder auch intuitive Intelligenz. Hier werden Entscheidungen gefällt, und zwar nicht aus Logik und Sachverstand, sondern aus einem intuitiven Wissen. Wenn wir buddhi putzen sehen wir klarer. Und buddhi putzen wir, in dem wir Yoga üben. Mit dem Körper, mit dem Atem und dem Geist. Denn eines sollte mittlerweile trotz aller sportiven ausgerichteten Yogastunden, die es mittlerweile gibt, klar sein. Yoga ist das „Zur Ruhe kommen“ des Geistes. Kein Sport, keine Akrobatik, kein Modetrend. Yoga ist Erfahrung. Yoga ist sehen lernen. Wenn der Geist zur Ruhe kommt, wird das Trübe klar.
Also liebe Yogis, ab auf die Matte, den Putzlappen rausgeholt und buddhi putzen. Denn wer möchte schon mit einer schmutzigen Brille durchs Leben gehen?
In Gedenken an den wunderbaren Hartmut Weiss, der in seinen Stunden, ohne mir jemals etwas Persönliches gesagt zu haben, meine Hand genommen und mir den Weg gewiesen hat.
Text: Kerstin Mattmüller
Foto: Ilka Koch