Interview mit Helga Baumgartner

YSM: Du kommst aus einem „normalen“ Beruf. Viele Menschen hängen ihren Alltagsjob an den Nagel um sich ganz dem Yoga zu widmen. Was war der ausschlaggebende Punkt bei Dir?

Das Karma – würde ich sagen! Ich habe als Teenager mit MBSR begonnen, und dann im Architekturstudium mit einer täglichen Yogapraxis – diese hat mir geholfen dem Druck von diesem Studium standzuhalten. Ein sozialer Städtebau Master hat mich dann nach dem Architekturdiplom nach Barcelona gebracht, wo ich dann meine erste einjährige Yogalehrerausbildung absolviert habe, in Hatha Vinyasa Yoga.

In Barcelona habe ich tagsüber als Architektin gearbeitet und abends und am Wochenende Yoga unterrichtet. 5 Jahre in Barcelona und weitere 5 Jahre in Regensburg habe ich dieses parallele Schaffen als yogische Architektin oder architektonische Yogalehrerin geführt – bis die Anfrage kam ein Yin Yoga Buch zu schreiben! Aus meinem wiederholten Ablehnen (keine Zeit für ein Buch) wurde schliesslich doch noch eine Zusage für das Buch. Und so habe ich mich im Architekturbüro Anfang 2015 für ein halbes Jahr verabschiedet um mein Yin Yoga Buch zu schreiben. Und bin dann letztlich nie wieder dort erschienen!

In diesem halben Jahr des Schreibens hatte sich mein Leben so sehr auf den Yoga ausgerichtet – mein Leben gab einfach keinen Raum mehr für die Architektur. Ich bin aber höchst dankbar dass ich so als Yogalehrerin sehr langsam in dieses Lehrersein hineinwachsen konnte. Die Architektur hat mir einerseits die Möglichkeit gegeben meine Yin Yoga – und Anatomie Ausbildungen zu finanzieren. Und sie hat andrerseits meine eigene spirituelle Praxis und mein Yogaunterrichten die erste knappe Dekade frei von einem finanziellen Anspruch gehalten. Das war für mich ein wichtiger Prozess als Lehrer, und ich empfehle das auch allen jungen Yogalehrern. Ich finde es nicht einfach wenn sich junge Yogalehrer gleich finanziell auf diesen ‚Beruf‘ stützen möchten- das ist sicherlich eine grosse Herausforderung für die eigene spirituelle Praxis und die innere Entwicklung.

Wer weiss, vielleicht arbeite ich dann als ältere Dame ja wieder in der Baukunst – je nachdem wie mein Karma und das Leben mich lenken werden!

 

YSM: Viele Lehrer haben Dich auf deinem Yogaweg begleitet. Was war für dich der Grund dich auf die YIN Yoga Praxis „festzulegen“?

Yin Yoga hat für mich mehrere Wege vereint die ich schon praktiziert hatte. ‚In der Yogaklasse sind wir manchmal doch noch zu wenig erleuchtet, um uns nicht mit anderen zu vergleichen, die Asanapraxis nicht zu bewerten‘ – wie es kürzlich eine befreundete Yogalehrerin so treffend auf den Punkt gebracht hat. Das Vergleichen aber fällt im Yin Yoga ganz weg, weil es im Yin Yoga keine Meisterschaft der Haltungen gibt. Jeder übt im Yin Yoga seiner eigenen anatomischen Individualität entsprechend eine andere Form. Es gibt nicht die eine perfekte Haltung, sondern jede Haltung die ein Übender einnimmt ist, kann für sie oder ihn perfekt sein. Wir wollen‚ nicht mit dem Körper in eine Hal tung, sondern mit der Haltung in den Körper‘ wie einer meiner Yin Yoga Kollegen es so schön sagt. Es ist also eine Praxis ohne Leistungsdruck, wir müssen wirklich gar nichts erreichen. Das ist für mich ein Weg, mit einem sehr bewusstem inneren Ort der Weisheit in Verbindung zu treten.

Die tibetische Sprache hat z.B. einige Worte für ‚Geist‘, wie die buddhistische Nonnen Pema Chödrön es beschreibt. ‚Sem‘ ist eher die Kleingeistigkeit, das diskursive Denken, unser ewiges vergleichen und werten und analysieren.
‘Rigpa’ hingegen ist der Bewusstseinszustand hinter all den Sorgen, Wünschen und Hoffnungen, die innere ‚Helligkeit‘ oder der Weisheitsgeist. Für mich ist Yin Yoga eine grossartige Praxis, den inneren Weisheitsgeist ‚Rigpa’ zu erfahren, eine unglaubliche innere Stille und Weite zu erleben. Das Werten, das diskursive Denken, hat keinerlei Nahrung. Die Stille der Meditation und die (allein schon physische) Weite der Yogapraxis begegnen sich im Yin Yoga. Das ist für mich die Magie der Yin Yoga Praxis.

Natürlich brauchen wir auch das Yang, eine aktive Bewegungsform als Ausgleich – aber das ist bei vielen auch schon durch den Sport, das Joggen und Radeln und Schwimmen gegeben. Der Yoga hingegen kann diese tiefe Erfahrung des Selbst geben.

 

YSM: In welcher Situation vergisst Du alles um Dich herum?

Wie könnte es auch anders sein: in der Meditation, im Yoga, beim Chanten, oder wenn ich den Teachings meiner Lehrer lauschen kann. Aber auch jenseits der Matte kannte ich das schon früher beim Surfen, Klettern oder Snowboarden. Oft vergesse ich auch alles in einer intensiven Begegnung mit einem Menschen. Ich glaube mir fällt es eher leicht im Moment zu sein.

 

YSM: Du begegnest Dir selbst das erste Mal, wie ist dein Eindruck?

Hm, immer wieder anders. Mal bin ich sehr zurückgezogen dann wieder recht extrovertiert, je nachdem was meine Seele gerade braucht. Alles befindet sich immer im Wandel, und ich auch.

 

YSM: Du hättest nur zwei Wörter, um Dich zu beschreiben, welche wären das?

Gibt es einen Joker? Diese Frage gebe ich an meinen Partner, Freunde und Familie weiter ; )

 

YSM: Was trägst Du immer bei Dir und warum?

Ganges Wasser aus der Quelle in Gangotri mit Blessings meiner indischen spirituellen Lehrerin Ammaji, Swamini Pramananda. Eine Mala von einem tibetischen Mönchsfreund mit Blessings von dem hohen tibetischen Lama Zopa Rinpoche. Als Erinnerung an meine Aufgabe im Leben, unter dem Schutz der Traditionen denen ich mich sehr verbunden fühle, Yoga, Advaita Vedanta, und dem tibetischem Buddhismus.

 

YSM: Welche drei Fähigkeiten hättest Du gerne?

Das beantworte ich mit einem Gedicht …

‚Be a lamp or a lifeboat or a ladder. Help someones soul heal. Walk out of your house like a shepherd‘

Rumi

 

YSM: Welche Ziele willst Du in deinem Leben unbedingt noch erreichen?

Ehrlich gesagt ist mein Ziel ‚nur‘ die Erleuchtung oder Moksha, die Freiheit von allem Anhaften am Irdischen. Denn wer weiss in welcher Form ich im nächsten Leben geboren werde, und ob ich dann wieder die Chance habe eine spirituelle Praxis auszuüben ; ) ! Dazu gehört also viel Innenschau und Meditation. Wie Pema Chödrön es sagt:

‚Es heisst, dass wir unmöglich Erleuchtung – von Zufriedenheit und Freude ganz zu schweigen – erreichen können, ohne zu erkennen, wer wir sind und was wir tun, ohne unsere Muster und Gewohnheiten anzuschauen. Das nennt man Maitri – die Entwicklung einer liebevollen Güte für und bedingungslosen Freundschaft mit uns selbst.’

 

YSM: In welcher Hinsicht bist Du extrem?

Extrem zu sein ist ein Urteil das aus dem Kontext und dem Vergleich mit anderen, dem scheinbar ‚normalem‘ kommt. Was also für eine Person extrem ist, ist für die andere Person ganz harmlos.

Ich versuche in meinem Leben und in meiner Praxis das zu vermeiden was mir extrem, eng oder dogmatisch erscheint. Vielleicht findet es jemand extrem wenn man versucht nicht extrem zu sein sondern den Weg der Mitte zu gehen? Wer weiss ; )

 

YSM: Was bedeutet Erfüllung für Dich?

Es ist eine Erfüllung wenn ich sehe dass das was ich als Yogalehrer anbiete, etwas Gutes in die Welt bringen kann, und die Welt dadurch ein kleines Stückchen besser wird. Wenn es nur einer Person nach einer Klasse besser geht, physisch, emotional, mental, dann ist das für mich eine Erfüllung.

 

YSM: Du bist sehr viel gereist und hast viele Plätze, Länder und Menschen kennengelernt. Was bedeutet Heimat für Dich? Können auch Menschen eine Heimat für Dich sein? Welche Menschen sind das?

Total, mit den richtigen Menschen um mich herum fühle ich mich schnell zuhause. Das ist mein Partner Pema Wangchen, meine Familie, meine Freunde oder auch und sicherlich nicht zuletzt, die Sangha, die Gemeinschaft der Übenden, egal ob im Yoga, im Vedanta oder im Buddhismus. Aber auch in den Yin Yoga Ausbildungen ist es so, dass die Gruppe der Yogis sich für mich schnell wie eine Heimat anfühlt.

 

YSM: Welches Musikstück hat dein Leben verändert?

Das klingt vielleicht erst einmal recht komisch: ein Song der mich wirklich geprägt hat, war von der EAV ‚Küss die Hand schöne Frau‘. Dieses Stück lief irgendwann einmal in meinem Schulbus, und damit begann ähnlich von ‚Und täglich grüsst das Murmeltier’ eine kindlich-unbewusste Grausamkeit, da ich nun jeden Morgen mit ‚Bussibärli ich bins die Helga’ be-grüsst wurde. Das klingt vielleicht erst einmal ganz witzig, aber erstens wurde ich mir bewusst das mein Name irgendwie unzeitgemäss war, und ich fühlte mich uncool. Und mir wurde mit erschreckender Deutlichkeit klar wie unwohl ich mich dabei in meiner Haut fühlte, dass ich mich dafür schämte und am liebsten unsichtbar sein wollte. Es sind ja oft auch diese ganz kleinen Dinge im Leben, die uns aufreiben können, das Gefühl von Nicht-Akzeptanz, die Angst anders zu sein. Als ich dann Jahre später als junger Teenager mit MBSR und Autogenem Training begonnen habe, kam die nächste Erfahrung dazu, dass es durchaus Wege gibt unser grundlegendes Empfinden des Moments sehr stark zu verändern. Unsere ‚Baseline’ anzuheben – wenn man es so sagen möchte. Wir haben das Potential in uns, unsere momentane Erfahrung, Einschätzung und Körperempfinden wie auch das Denken und die Emotionen auf eine Weise zu beeinflussen, die viel mehr mit Wahrnehmen und Nicht-Reagieren als mit Agieren zu tun haben. Die Fahrt im Schulbus war für mich also so eine kindliche Samsara (Suffering) Erfahrung, dass aus meinem Bewusstsein für das Unwohlempfinden in mir auch immer stärker der Wunsch erwuchs, Methoden zu erlernen die einen Perspektivenwechsel unterstützen!

 

YSM: Gibt es irgendetwas, was Du sammelst, wenn ja, was ist es und warum?

Ich bin kein Sammler. Wenn ich etwas sammle, dann auf alle Fälle die Erfahrungen. Ich sammle sie mit dem Versuch das was stattfindet, auf seine positivste Art zu erleben, egal ob es gerade scheinbar eine Enttäuschung oder scheinbar ein Erfolg ist.

 

YSM: Wen willst Du noch unbedingt kennenlernen und warum?

Mir fallen vielen Menschen ein die mich inspirieren, manche davon sind schon tot, andere noch am Leben. Spirtuelle Lehrer wie Ramana Maharishi, Jesus, Pema Chödron, Paramahansa Yogananda würde ich gerne einmal erleben! Vor allem auch, weil die erleuchteten Lehrer das eigene Bewusstsein allein durch ihre Präsenz erweitern. Meine eigene spirituelle Lehrerin – meinen Guru wenn Du es so sagen möchtest – habe ich aber schon gefunden. 2011 bin ich im Himalaya meiner Vedanta Lehrerin Ammaji, Swamini Pramananda begegnet. Daher ist die brennende Sehnsucht gestillt, noch ‚den einen‘ wichtigen Lehrer meines Lebens kennenzulernen. Im Endeffekt wäre mein Wunsch bei all den Begegnungen mit den Erleuchten immer, mehr über mein Selbst zu erfahren, meinen Wesenskern – meine göttliche Natur. Es ist mein grösster Wunsch mir Selbst zu begegnen, mehr und mehr und näher und näher. Mich in meiner pursten Form zu erfahren, in der Form wie sie die Nirvana Shatakam beschreibt.

chidananda

rupah

shivo‘ham

shivo‘ham

I am the form of

consciousness

and bliss,

I am the eternal Shiva…

 

Interview: Ilka Koch