Stille in mir und dir


Was ist Stille für dich? Stille wird gemeinhin definiert, als das nicht Vorhandensein von akustisch wahrnehmbaren Reizen oder als Bewegungslosigkeit. Und wer erinnert sich nicht daran, wie schwer es als Kind war, der Forderung „bleib doch mal still sitzen“ nachzukommen? Nun haben wir es geschafft, denken wir. Denn täglich gehen wir auch sitzenden Aktivitäten nach, bei denen es uns nicht mehr schwer fällt, still zu sitzen. Warum fühlen sich viele von uns also so rastlos? Die „nicht-Stille“ ist nach innen gewandert, in unser Gehirn. Und diese Unruhe gilt es wiederum zu überwinden.

Die moderne Gehirnforschung nutzt Gehirnfrequenzen, um evidenzbasierte Ergebnisse für etwas zu bekommen, was die alten Kulturen schon lange wussten und beherrschen: Je schneller die Frequenz der Wellen, desto mehr ist unsere Aufmerksamkeit nach außen gerichtet. Dies sichert uns eine gute Aufnahmefähigkeit, um etwas zu lernen. Allerding kann es schnell passieren, dass die Frequenz nochmals leicht ansteigt und wir uns dann im Bereich Stress und Hektik befinden. Sinkt allerdings die Frequenz der Wellen, richtet sich der Fokus nach innen: Wir erinnern uns besser, und in Folge dessen lernen wir besser, die Kreativität steigt und der Meditationszustand wird leichter erreicht. Vor diesem Hintergrund ist es einleuchtend, warum wir beim Meditieren so gerne die Augen schließen. Durch den Entzug von sensorischen Reizen wirken wir auf natürliche Art einer Reizüberflutung des Gehirns vor.

Die Stille ist also notwendig für die Verbindung zu unserem inneren Selbst. Deswegen ziehen sich Menschen, die nach Stille suchen, an ruhigere Orten zurück: ans Meer, in den Wald, auf Bergen. Was macht die Magie solcher Orte aus? Ist es wirklich das nicht Vorhandensein von Geräuschen? Klar, die hupenden Autos, klingelnden Handys und der andere nervige Kram unserer modernen Gesellschaft sind dort nicht vorhanden. Aber wirklich still ist es nicht: Sei es das Meeresrauschen, das Zwitschern der Vögel, der Wind in den Blättern, viele Geräusche umgeben uns. Aber diese Geräusche haben eine andere Qualität. Sie sind nicht schrill, sie sind weder kurz, noch durchdringend. Sie sind stetig. Und deswegen nehmen wir sie wohlwollend auf. Das Gehirn schaltet auf Ruhemodus. Wir entspannen.

Die Magie dieser besonderen Orte besteht also darin, dass weniger die Geräusche um uns herum, sondern vielmehr die Zeit für einen Moment still stehen bleibt. Wir halten inne und genießen. Wir genießen das Kommen und Gehen der Wellen, und fangen an, im Gleichklang mit ihnen zu atmen. Wir genießen das Zwitschern der Vögel, das uns ein inneres Lächeln auf die Lippen zaubert. Wir genießen das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, mal wild und stark, mal flüsternd und beschützend. Wir genießen. Darum mögen wir die Stille. Da geht es um uns. Da sind wir für uns da. Eins mit der Natur, eins mit uns, eins mit dem Universum. Die Zeit ist für genau den Augenblick lang still stehen geblieben, in dem wir ganz bei uns selbst waren. Im Hier und Jetzt sein, das konnten wir noch als Kinder. Jetzt da wir erwachsen sind, hilft uns die Stille, diese Momente immer noch zu genießen.

Doch wie lässt sich das in unsere tägliche Routine integrieren? Ich habe mal ein Interview mit einem buddhistischen Mönch gelesen, in dem es um einen geeigneten Ort für die Meditation ging. Das Problem unserer Gesellschaft sei, dass wir nie einen Ort der wirklichen Stille finden. Der Mönch antwortete, man könne sich auch auf die hupenden Autos und den vorbei fahrenden Verkehr konzentrieren. Doch was soll das mit Stille zu tun haben? Die zwitschernden Vögel nehmen wir als wohlwollend wahr, denn wir empfinden sie als naturnah. Wie soll dies nun mit Autos geschehen? Darin liegt wohl das größte Missverständnis der Stille: Solange wir die Stille um uns herum suchen, werden wir in der Tat die größten Schwierigkeiten haben, sie zu finden. Durch die Aufmerksamkeit auf die sich wiederholdenden Geräusche in unserer Umgebung und die Konzentration nach innen, kann sich mehr Stille in uns ausbreiten, als wenn wir auf die Dinge um uns herum vertrauen. Die wahre Stille kann nur in uns entstehen, nicht in den Dingen um uns herum.

Diesen Weg geht Yoga. Yoga ist das Zur-Ruhe-bringen der Gedanken im Geist. Damit wir innerlich still werden können, lernen wir zuerst außen still zu sein, wir lernen verschiedene Asanas. Wie lange Asanas gehalten werden müssen, darüber gibt es immer wieder Diskussionen zwischen Yogalehrenden. Dies zeigt, wie wichtig das Thema Stille – Verharren in der Position – für alle Yogapraktizierenden ist. Durch das Verharren in der Asana, durch die Achtsamkeit, kommen wir nach und nach auch innerlich zur Ruhe. Wenn wir ruhig werden, wenn wir einen Moment inne halten, dann steht auch die Zeit still. Bei Pranayama, den Atemübungen, richten wir unseren Fokus auf unseren Atem. Wenn wir beobachten, wie dieser von unserer Umwelt in uns hinein und anschießend wieder hinaus strömt, dann beobachten wir, wie die Stille um uns herum zur Stille in uns wird, und geben diese dann auch wieder an unsere Umgebung ab, so dass sich die Energie in dem Raum mit verändert. Es gibt im Brandenburger Tor in Berlin einen Raum der Stille. Er ist nicht an eine bestimmte Konfession gebunden und hat den einzigen Zweck, in der Stille Platz zu nehmen. Dort darf man nichts tun, still sein, zur äußeren und inneren Ruhe kommen. Die besondere Energie dieser Orte wird zurzeit auch in vielen Schulen wiederentdeckt: Räume der Stille schaffen, an denen die Schülerinnen und Schüler zur Ruhe kommen dürfen. Es gibt nichts Heiligeres als die Stille, und es gibt wenig Heilenderes.

Auch in den meisten Ashrams kannst du die Stille erleben: Viele, die sich von ihrem stressigen Leben erholen wollen, legen für eine Weile ein Schweigegelübde ab. Das kann zu einer großen Herausforderung werden, aber zu einer ungleich großen Bereicherung: In der Stille erfährst du die lodernde Flamme in dir, du kannst deiner Seele, deinem inneren Kind zuhören. Denn nur in der Stille hörst du ihren Ruf. Also versuche es doch mal und mache das Experiment: Gönne dir jeden Tag einen Moment der Stille, gönne dir eine Auszeit von der modernen Kommunikation, von den sozialen Netzwerken, suche dir einen Ort in deiner Nähe, in dem du Stille erfahren kannst und werden selbst still und schicke diese Stille wieder hinaus in die Welt, um sie ein kleines bisschen friedvoller zu machen. Om, Shanti und Namasté.

Text: Astrid Eichler
Foto: Ilka Koch